Document #1057829
Amnesty International (Author)
Amtliche Bezeichnung: Islamische Republik Afghanistan
Staats- und Regierungschef: Hamid Karzai
Todesstrafe: nicht abgeschafft
Einwohner: 32,4 Mio.
Lebenserwartung: 48,7 Jahre
Im Oktober jährte sich die internationale militärische Intervention in Afghanistan zum zehnten Mal. Die andauernden bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der afghanischen Regierung und ihren internationalen Verbündeten auf der einen und den Taliban und anderen bewaffneten Gruppen auf der anderen Seite forderten immer mehr Opfer in der Zivilbevölkerung. Dadurch sah sich Amnesty International veranlasst, den Internationalen Strafgerichtshof zum wiederholten Mal zur Untersuchung der mutmaßlichen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufzufordern. Nach Angaben der UN-Unterstützungsmission in Afghanistan (United Nations Assistance Mission in Afghanistan - UNAMA) kamen 2011 im Zuge des Konflikts 3021 Zivilpersonen ums Leben; für 77% dieser Todesfälle wurden bewaffnete oppositionelle Gruppen verantwortlich gemacht. Die Justizbehörden, die Polizei und die nationalen Streitkräfte begingen immer wieder schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen. Die Geheimdienste nahmen nach wie vor willkürliche Inhaftierungen vor, verbunden mit systematischer Anwendung der Folter und anderer Formen von Misshandlung. Der afghanischen Bevölkerung, insbesondere Frauen und Mädchen, wurden die Rechte auf Gesundheit und auf Bildung vorenthalten.
In den Gebieten unter Kontrolle der Taliban und anderer aufständischer Gruppen hatten die meisten Menschen noch immer keinen Zugang zu humanitärer Hilfe. Die beratende Organisation ANSO (Afghanistan NGO Safety Office) dokumentierte 170 Angriffe auf Mitarbeiter von NGOs - 20% mehr als im Vorjahr. Gewalt gegen Frauen und Mädchen war weit verbreitet und blieb ungestraft, besonders in von Aufständischen kontrollierten Gebieten. Frauen, die geschlechtsspezifische Gewalt zur Anzeige brachten, konnten kaum auf Unterstützung hoffen.
Vier Monate nach den von Gewalt und Wahlbetrug überschatteten Wahlen trat das Parlament am 26. Januar zu seiner konstituierenden Sitzung zusammen. Amnesty International äußerte sich besorgt darüber, dass im Parlament auch Abgeordnete saßen, die unter dem Verdacht standen, Kriegsverbrechen und andere Menschenrechtsverstöße begangen zu haben.
Die bekannten Mitglieder der Unabhängigen Afghanischen Menschenrechtskommission (Afghanistan Independent Human Rights Commission - AIHRC) Nader Nadery, Fahim Hakim und Mawlawi Gharib wurden am 21. Dezember ihrer Ämter enthoben, da Präsident Hamid Karzai ihre Mandate kurz vor der Veröffentlichung eines Berichts mit einer Auflistung von Menschenrechtsverletzungen nicht verlängerte.
Im Juli 2011 begannen die NATO und die Internationale Schutztruppe in Afghanistan (International Security Assistance Force - ISAF) in sieben Provinzen des Landes mit der Übergabe der Verantwortung für die Sicherheit an die afghanische Regierung, und im November begann in weiteren 17 Provinzen die zweite Phase des Übergabeprozesses.
Ungeachtet der Ermordung des früheren Präsidenten und Verhandlungsführers Burhanuddin Rabbani durch zwei vorgebliche Taliban-Unterhändler am 20. September wurden die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban und anderen aufständischen Gruppen fortgesetzt.
Im Juni führte der UN-Sicherheitsrat zwei getrennte Sanktionslisten für die Taliban und Al-Qaida ein.
Unter den 70 Mitgliedern des Hohen Friedensrats, der die Verhandlungen mit den Taliban und anderen bewaffneten Gruppen führte, waren nur neun Frauen. Afghanische Frauenrechtsgruppen und zivilgesellschaftliche Organisationen äußerten sich besorgt darüber, dass die Menschenrechte und insbesondere die Rechte der Frauen bei den Verhandlungen aus Gründen der Zweckdienlichkeit geopfert werden könnten. Die afghanische Regierung und ihre internationalen Verbündeten setzten Resolution 1325 des UN-Sicherheitsrats, in der die wirkungsvolle Einbeziehung der Frauen auf allen Ebenen von Friedensprozessen gefordert wird, nach wie vor weder auf politischer noch auf praktischer Ebene um.
Unter Verstoß gegen die Menschenrechte und das Kriegsrecht gingen die Taliban und andere bewaffnete Gruppen mit Mordanschlägen und Entführungen auch gegen die Zivilbevölkerung vor und verletzten bei wahllosen Bombenangriffen und Selbstmordanschlägen zahlreiche Zivilisten. Die Anzahl gezielter Mordanschläge auf afghanische Zivilpersonen, darunter auch Regierungsvertreter und Stammesälteste, denen ihre Tätigkeit für die Regierung oder internationale Organisationen bzw. deren vermeintliche Unterstützung vorgeworfen wurde, nahm zu.
Nach Angaben von UNAMA waren die Taliban und andere bewaffnete Gruppen für 77% der Todesopfer unter der Zivilbevölkerung verantwortlich.
Diese platzierten immer öfter improvisierte Sprengsätze in Moscheen, auf Märkten und in anderen nicht militärischen Bereichen und sorgten so für eine deutliche Zunahme der Opfer in der Zivilbevölkerung.
Bei gezielten Anschlägen bewaffneter Gruppen auf Mitarbeiter von Hilfsorganisationen kamen 31 Personen zu Tode, und 34 trugen Verletzungen davon; 140 Personen wurden entführt und als Geiseln festgehalten.
Der afghanische Inlandsgeheimdienst (National Directorate of Security - NDS) nahm auch im Berichtsjahr verdächtige Personen willkürlich in Haft und verweigerte ihnen den Kontakt zu einem Anwalt oder zu ihrer Familie sowie den Zugang zu Gerichten oder anderen externen Organen. Es gab glaubwürdige Anschuldigungen, dass der NDS Häftlinge foltert und geheime Haftzentren betreibt. Nach einem UN-Bericht vom Oktober, in dem die systematische Anwendung der Folter durch NDS-Angehörige dokumentiert wird, führte die NATO keine Überstellung von Häftlingen an die afghanischen Sicherheitsorgane mehr durch. Laut diesem Bericht waren in 47 Hafteinrichtungen des NDS und der afghanischen Polizei in 22 Provinzen Häftlinge gefoltert worden.
Die US-Streitkräfte hielten ohne klare rechtliche Zuständigkeit weiterhin sowohl Afghanen als auch einige Personen mit anderer Staatsangehörigkeit ohne ordentliches Verfahren in Haft. Etwa 3100 Gefangene wurden nach wie vor im Haftzentrum Detention Facility Parwan auf dem Gelände des US-Militärstützpunkts Bagram ohne zeitliche Begrenzung in "Sicherheitsverwahrung" festgehalten, einige von ihnen bereits seit mehreren Jahren. Im Januar übergaben die USA einen Gebäudekomplex mit 300 Häftlingen im Rahmen ihres Programms zur Überstellung von Häftlingen an die afghanischen Behörden. Das US-Verteidigungsministerium erklärte, die afghanischen Behörden hätten seit Beginn der ersten Prozesse in der Hafteinrichtung und im afghanischen Justizzentrum in Parwan bis zum Mai 2011 über 130 Gerichtsverfahren durchgeführt (siehe Länderbericht USA).
Die afghanischen Journalisten gingen trotz wachsenden Drucks und verstärkter Gewalt, die auch von staatlichen Einrichtungen und anderen einflussreichen Organen ausgingen, weiter ihrer Arbeit nach. Der NDS und der Rat der Religionsgelehrten (Ulema Council) leiteten Strafverfolgungsmaßnahmen gegen zahlreiche Personen ein, die sich schriftlich oder mündlich zu Angelegenheiten äußerten, die als Gefahr für die nationale Sicherheit oder als blasphemisch betrachtet wurden.
Bei politisch motivierten Übergriffen der afghanischen Streitkräfte und aufständischer Gruppen wurden Journalisten entführt, mit Schlägen misshandelt oder getötet. Nach Angaben von Nai, einer afghanischen NGO zur Unterstützung der Medien, wurden im Berichtsjahr 80 Journalisten angegriffen und drei weitere getötet. In den von den Taliban und anderen bewaffneten Gruppen kontrollierten Gebieten wurden Journalisten häufig attackiert und aktiv an der Berichterstattung gehindert.
Die Regierung sorgte bei Übergriffen auf Journalisten, Menschenrechtsverteidiger und andere Personen, die gewaltfrei ihr Recht auf freie Meinungsäußerung ausübten, weder für gründliche Ermittlungen noch für die Strafverfolgung der Täter.
Frauen und Mädchen litten in Afghanistan nach wie vor unter Diskriminierung und häuslicher Gewalt und wurden zu Opfern von Frauen- und Mädchenhändlern oder von Zwangsverheiratung zwecks Beilegung von Streitigkeiten. Auch die Angriffe der Taliban richteten sich immer wieder besonders gegen Frauen und Mädchen. Nach einem gemeinsamen Bericht der UN-Organisation zur Gleichstellung der Geschlechter und Förderung von Frauen (UN-Frauen) und der unabhängigen afghanischen Menschenrechtskommission AIHRC war bei 56% aller Eheschließungen die Braut noch keine 16 Jahre alt. Das Ministerium für Frauenangelegenheiten dokumentierte für den Zeitraum vom 22. März bis 31. Dezember landesweit 3742 Fälle von Gewalt gegen Frauen. Eine positive Entwicklung war im September die Zustimmung der Generalstaatsanwaltschaft zur Einrichtung von sechs Provinzbüros zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen.
Die Polizei und die Gerichte gingen Missbrauchsvorwürfen von Frauen häufig nicht nach, so dass Berichte über Schläge, Vergewaltigung und andere Formen sexueller Gewalt nur selten zur Einleitung von Ermittlungen führten. Frauen, die vor ihrem Ehemann flohen, weil er sie misshandelte, wurden häufig inhaftiert und wegen fragwürdiger Straftaten wie "Verlassen der ehelichen Wohnung" oder wegen "moralischer" Vergehen, die im Strafgesetzbuch nicht erfasst und mit internationalen Menschenrechtsnormen unvereinbar sind, strafrechtlich verfolgt.
Durch gezielte Angriffe auf Mitarbeiter von Hilfsorganisationen und staatlichen Gesundheitseinrichtungen, insbesondere auf Ärzte, war die Gesundheitsversorgung von Millionen von Menschen gefährdet. Dies galt vor allem für die Gebiete, die von den bewaffneten Auseinandersetzungen besonders betroffen waren bzw. die von den Taliban und anderen bewaffneten Gruppen kontrolliert wurden. Zwar wurden in einigen Landesteilen im Hinblick auf die Mütter- und Kindersterblichkeit Verbesserungen erzielt, doch auf das gesamte Land bezogen war die Lage für Schwangere und für Kleinkinder weiter dramatisch.
Die Taliban und andere bewaffnete Gruppen griffen gezielt Schulen an und gingen gegen Schüler und Lehrer vor. In den von diesen Gruppen besetzten Gebieten wurden viele Kinder, vor allem Mädchen, am Schulbesuch gehindert. Nach Angaben des Bildungsministeriums besuchten mehr als 7,3 Mio. Kinder eine Schule, 38% davon waren Mädchen. Offiziellen Quellen zufolge blieben 2011 insgesamt mehr als 450 Schulen geschlossen, und etwa 200000 Kinder konnten aufgrund der unsicheren Lage besonders in den südlichen und östlichen Provinzen nicht zur Schule gehen.
Nach Angaben des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge (UNHCR) entfiel im Zeitraum Januar-Juni 2011 die größte Zahl von Asylanträgen in den Industrieländern auf afghanische Staatsangehörige. Am Jahresende verzeichnete der UNHCR mehr als 30000 afghanische Asylsuchende.
Gleichzeitig lebten weiterhin etwa 2,7 Mio. Afghanen als Flüchtlinge in Pakistan und im Iran. Die Gesamtzahl der Menschen, die durch den Konflikt aus ihren Wohnorten vertrieben worden waren, betrug 447647.
Wer im Land blieb, suchte Zuflucht in den größeren Städten, vor allem in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif. Viele Binnenflüchtlinge landeten in überfüllten, unhygienischen informellen Siedlungen, wo es kaum Trinkwasser, angemessene Unterkünfte und Gesundheitseinrichtungen gab und wo sie ständig von der Zwangsräumung bedroht waren. Im Oktober meldete das Internationale Komitee vom Roten Kreuz für den Norden des Landes einen Anstieg der Binnenvertriebenen um 40% gegenüber dem Vorjahr.
Im Berichtsjahr gab es zwei Hinrichtungen. Mindestens 140 Menschen waren weiter von der Vollstreckung der Todesstrafe bedroht, und bei fast 100 zum Tode Verurteilten hat der Oberste Gerichtshof das Todesurteil bestätigt.
Vertreter von Amnesty International besuchten Afghanistan von Juni bis September.
© Amnesty International
Amnesty International Report 2012 - The State of the World's Human Rights (Periodical Report, English)