Document #1105389
Amnesty International (Author)
Amtliche Bezeichnung: Arabische Republik Ägypten
Staatsoberhaupt: Mohamed Hussein Tantawi (löste im Februar Muhammad Hosni Mubarak im Amt ab)
Regierungschef: Kamal Ganzouri (löste im Dezember Essam Sharaf im Amt ab; dieser hatte im März die Amtsgeschäfte von Ahmed Shafik übernommen, der wiederum im Januar auf Ahmed Nazif gefolgt war)
Todesstrafe:nicht abgeschafft
Einwohner: 82,5 Mio.
Lebenserwartung: 73,2 Jahre
Kindersterblichkeit: 21 pro 1000 Lebendgeburten
Alphabetisierungsrate: 66,4%
Während der "Revolution vom 25. Januar", die den Sturz von Präsident Hosni Mubarak im Februar 2011 zur Folge hatte, kamen mindestens 840 Menschen ums Leben, mehr als 6000 Personen wurden verletzt, die meisten davon bei Übergriffen durch die Polizei und andere Sicherheitskräfte. Der Oberste Militärrat unter dem Vorsitz von Mohamed Hussein Tantawi übernahm die Regierungsgeschäfte von Hosni Mubarak, der zusammen mit seinen Söhnen und anderen Behördenvertretern vor Gericht gestellt wurde. Die Proteste dauerten jedoch weiter an. Armee und Polizei gingen in einigen Fällen mit exzessiver Gewalt gegen die Demonstrierenden vor. Der Oberste Militärrat ließ politische Gefangene frei und genehmigte bislang verbotene politische Parteien und unabhängige Gewerkschaften, der seit 30 Jahren andauernde Ausnahmezustand wurde jedoch nicht aufgehoben. Streiks waren verboten, und die Medien sahen sich mit weiteren Einschränkungen konfrontiert.
Mehr als 12000 Zivilpersonen wurden vor Militärgerichte gestellt. Viele von ihnen waren inhaftiert worden, weil sie ihrem Unmut über die schleppende Umsetzung der angekündigten Reformen Ausdruck verliehen hatten. Hosni Mubaraks berüchtigte Geheimpolizei wurde aufgelöst. Dennoch war die Folter von Häftlingen weiterhin an der Tagesordnung. Sie erreichte eine neue schockierende Dimension, als Armeeangehörige inhaftierte Frauen sogenannten Jungfräulichkeitstests unterzogen. Das Militär ging gegen Bewohner informeller Siedlungen in Kairo und anderen Städten mit rechtswidrigen Zwangsräumungen vor. Personen, die leer stehende staatliche Gebäude besetzt hatten, mussten diese ebenfalls räumen.
Frauen spielten bei den Protestaktionen eine wichtige Rolle, wurden aber weiterhin durch Gesetze und im täglichen Leben benachteiligt. Religiöse Minderheiten, allen voran die koptischen Christen, sahen sich weiterhin Diskriminierungen ausgesetzt. Im Berichtsjahr ergingen mindestens 123 Todesurteile, mindestens eine Person wurde hingerichtet. Grenzposten schossen erneut auf Migranten, Flüchtlinge und Asylsuchende, die versuchten, von Ägypten aus die Grenze nach Israel zu überschreiten.
Berichten zufolge kamen 2011 20 Menschen bei Grenzübertritten ums Leben, darunter auch an der Grenze zum Sudan. Viele weitere wurden strafrechtlich verfolgt oder in Länder abgeschoben, in denen ihnen schwere Menschenrechtsverletzungen drohten. Einige sollen Opfer von Menschenhandel geworden sein.
Am 11. Februar 2011 trat Präsident Mubarak nach 30 Jahren an der Macht zurück. Dem Rücktritt gingen 18-tägige überwiegend friedliche Massenproteste in ganz Ägypten voraus, bei denen die Sicherheitskräfte mit unverhältnismäßiger und tödlicher Gewalt gegen Demonstrierende vorgingen. Nach offiziellen Angaben kamen mindestens 840 Menschen ums Leben. Sie wurden bei Demonstrationen getötet oder starben im Zusammenhang mit den Protestaktionen. Mehr als 6000 Personen erlitten Verletzungen. Tausende Menschen wurden inhaftiert, viele gefoltert oder misshandelt. Mit dem Obersten Militärrat übernahm das Militär die Macht im Land, für die Übergangszeit bis zu den Parlamentswahlen wurden jedoch zivile Ministerpräsidenten und Minister ernannt. Die Parlamentswahlen begannen im November und dauerten bis Anfang 2012. Für Mitte 2012 wurden Präsidentschaftswahlen in Aussicht gestellt.
Unmittelbar nach Hosni Mubaraks Sturz setzte der Oberste Militärrat die Verfassung von 1971 außer Kraft, löste das Parlament auf und erließ eine Verfassungserklärung, die eine Reihe von Rechten garantierte. Hunderte von Personen, die sich ohne Anklageerhebung oder Gerichtsverfahren in Verwaltungshaft befanden, kamen frei. Die mächtige und lange verbotene Muslimbruderschaft sowie andere bisher nicht zugelassene Organisationen wurden im März 2011 genehmigt. Sie konnten fortan legal arbeiten und fochten sofort die Parlamentswahlen an. Die der Muslimbruderschaft nahestehende Partei Freiheit und Gerechtigkeit ging als stärkste Kraft aus den Wahlen hervor. Hosni Mubaraks Nationaldemokratische Partei wurde im April aufgelöst.
Im März beugte sich das Innenministerium dem Druck wochenlanger Proteste und löste den Staatssicherheitsdienst (State Security Investigations - SSI) auf, der berüchtigt war für Folter und andere Misshandlungen. Vor der Auflösung brachen Aktivisten in die SSI-Zentralen in Alexandria und Kairo ein, nachdem sich die Nachricht verbreitet hatte, Beamte des SSI seien dabei, Beweismaterial für Menschenrechtsverletzungen zu vernichten. Der SSI wurde durch die Nationale Sicherheitsbehörde (National Security Agency) ersetzt. Es blieb unklar, ob die Behörden wirkungsvolle Maßnahmen ergriffen, um die Einstellung bzw. Versetzung ehemaliger SSI-Beamter zu verhindern, die in Fälle von Folter und anderen Menschenrechtsverletzungen verwickelt waren. Der Direktor des SSI wurde allerdings im Zusammenhang mit der Tötung von Demonstrierenden im Januar und Februar angeklagt.
Der Oberste Militärrat hielt am nationalen Ausnahmezustand fest. Im September 2011 wurden die Notstandsgesetze dahingehend ausgeweitet, dass auch Straßenblockaden, die Verbreitung von Gerüchten durch die Medien sowie "Angriffe auf das Recht auf Arbeit" unter Strafe gestellt wurden. Änderungen des Strafgesetzbuchs verschärften die Strafen für "rücksichtsloses Vorgehen", Entführung und Vergewaltigung bis hin zur Todesstrafe. Außerdem trat das Gesetz Nr. 34/2011 in Kraft, das Streiks und andere Formen von Protesten verbietet, die vermeintlich "die Arbeit behindern". Im Oktober kamen bei gewaltsamen Auseinandersetzungen mindestens 28 Menschen ums Leben, die meisten waren koptische Christen. Daraufhin verbot der Oberste Militärrat Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts, der Herkunft, der Sprache, der Religion oder anderer Überzeugungen.
Trotz der Auflösung des SSI, dessen Angehörige gefoltert hatten, ohne dafür strafrechtlich verfolgt zu werden, gingen auch 2011 Berichte über Folterungen und andere Misshandlungen durch die Polizei und die Streitkräfte ein. Einige Personen kamen unter nicht geklärten Umständen in Gewahrsam ums Leben. Im Juni benannte die Staatsanwaltschaft eine Untersuchungskommission aus drei Richtern, die Berichte über Folterungen prüfen sollte. Während einigen Foltervorwürfen gegen die Polizei nachgegangen wurde, unternahm die Kommission nichts, um Vorwürfe gegen Militärangehörige zu untersuchen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.
Vom 28. Januar an wurde die Armee bei öffentlichen Kundgebungen eingesetzt, nachdem die Polizei von den Straßen abgezogen worden war.
Personen, denen man Verstöße oder Gewaltanwendung im Zusammenhang mit den Protesten vorwarf, wurden nicht mehr vor ordentliche Strafgerichte, sondern vor Militärgerichte gestellt, auch wenn es sich bei den Angeklagten um Zivilpersonen handelte. Die Militärgerichte waren weder unabhängig noch unparteiisch. Bis August 2011 waren nach offiziellen Angaben rund 12000 Menschen von Militärgerichten verurteilt worden. Die Anklagen lauteten auf "rücksichtsloses Verhalten", "Missachtung der Ausgangssperre", "Sachbeschädigung", "Beleidigung der Armee" oder "Behinderung von Arbeit". Viele der Angeklagten wurden nach einer Aussetzung ihrer Strafe oder nach ihrer Begnadigung wieder freigelassen. Tausende befanden sich Ende 2011 jedoch noch in Haft.
Vor dem Sturz von Hosni Mubarak gingen die Sicherheitskräfte mit unverhältnismäßiger und tödlicher Gewalt gegen Demonstrierende vor.
Gefängniswärter schossen auf verurteilte Häftlinge und töteten einige von ihnen. Danach gingen das Militär, die Militärpolizei und die Sicherheitskräfte ebenfalls mit exzessiver Gewalt gegen neuerliche Proteste von Menschen vor, die ihrem Ärger über mangelnde Fortschritte in Bezug auf politische Reformen und die Menschenrechtslage Ausdruck verliehen. Bei einigen Gelegenheiten kam es zu Zusammenstößen zwischen Demonstrierenden und Schlägerbanden - bewaffneten Männern in Zivil, die dem Vernehmen nach mit der Polizei bzw. mit der ehemaligen Regierungspartei in Verbindung standen. In vielen Fällen setzten die Sicherheitskräfte Tränengas ein oder feuerten rücksichtslos mit Schrot- und Gummigeschossen auf Demonstrierende. Scharfe Munition kam ebenfalls zum Einsatz. In mindestens einem Fall wurden Teilnehmer einer Protestaktion von gepanzerten Militärfahrzeugen überrollt, die in die Menge fuhren.
Rechte auf freie Meinungsäußerung und Vereinigungsfreiheit
Vor dem Sturz Präsident Mubaraks versuchten die Behörden, die Organisation von Kundgebungen zu behindern, indem sie Telefonleitungen und Internetzugänge kappten. Nachdem der Oberste Militärrat die Macht übernommen hatte, wurden die Medien mit zusätzlichen Einschränkungen konfrontiert. Die Sicherheitskräfte durchsuchten Fernsehsender und drohten Journalisten und Bloggern mit Inhaftierungen. Der Oberste Militärrat ging auch gegen Menschenrechtsorganisationen vor.
Die Behörden teilten mit, man werde die gesetzliche Genehmigung und die Finanzierung von rund 37 Menschenrechtsorganisationen näher untersuchen. Die Staatsanwaltschaft der Obersten Staatssicherheit (Supreme State Security Prosecution) erwäge, all jene Organisationen wegen "Verrat" oder "Verschwörung" anzuklagen, die nicht offiziell genehmigt seien, die ohne behördliche Genehmigung Geld aus dem Ausland erhielten oder sich an "unerlaubten" politischen Aktivitäten beteiligten. Die Zentralbank wies alle Banken des Landes an, Einzelheiten über finanzielle Transaktionen von NGOs und einzelnen Aktivisten dem Ministerium für Solidarität und Soziale Gerechtigkeit zu melden. Im Dezember führten Sicherheitskräfte bei etwa 17 Menschenrechtsorganisationen Razzien durch und konfiszierten Computer und Dokumente.
Frauen wurden im Berichtsjahr weiterhin sowohl durch die Gesetzgebung als auch im täglichen Leben diskriminiert. Dennoch spielten sie bei den Protesten vor und nach dem Sturz von Präsident Mubarak eine Schlüsselrolle. Einige Aktivistinnen und Journalistinnen wurden 2011 Opfer sexueller Gewalt und anderer Misshandlungen.
Im Dezember befand ein Verwaltungsgericht, die "Jungfräulichkeitstests" seien rechtswidrig, und wies die Militärbehörden an, sie zu unterlassen.
Der Oberste Militärrat schaffte das Quotensystem des Wahlgesetzes ab, das zuvor 64 Parlamentssitze (12%) für Frauen reserviert hatte. Stattdessen verlangte er von allen politischen Parteien, mindestens eine Frau auf ihre Kandidatenliste zu setzen. Es wurde jedoch nicht gefordert, Frauen auf einen aussichtsreichen Listenplatz zu setzen.
2011 gab es deutlich mehr gewalttätige Zusammenstöße zwischen Muslimen und koptischen Christen. Die Kopten wurden weiterhin diskriminiert und fühlten sich durch die Behörden nicht ausreichend geschützt. Nach der Machtübernahme durch den Obersten Militärrat schienen die sektiererischen Angriffe auf Kopten und ihre Kirchen durch mutmaßliche Islamisten zuzunehmen. Die Lage verschärfte sich noch weiter, nachdem Kopten bei einer Demonstration in Kairo im Oktober getötet wurden.
Einige der mutmaßlichen Verantwortlichen für die Tötungen im Januar und Februar wurden von den Behörden strafrechtlich verfolgt. Den Familienangehörigen von Personen, die bei der "Revolution vom 25. Januar" getötet worden waren, und Menschen, die bei den Protesten Verletzungen erlitten hatten, wurde jedoch keine Gerechtigkeit zuteil. Polizisten und andere Angehörige der Sicherheitskräfte, die wegen der Toten und Verletzten bei den Protesten strafrechtlich verfolgt wurden oder in diese Fälle involviert waren, behielten ihre Posten oder wurden auf Verwaltungsstellen im Innenministerium versetzt. Viele von ihnen übten dem Vernehmen nach Druck auf die Familien der Opfer und die Zeugen aus, ihre Beschwerden zurückzuziehen. Angehörige des Militärs und der Polizei begingen Menschenrechtsverletzungen, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Dazu zählten Folter und außergerichtliche Hinrichtungen.
In Kairo und anderen Städten lebten 2011 weiterhin Tausende von Menschen in informellen Siedlungen, die offiziell als "unsichere Gebiete" eingestuft waren, da dort Steinschlag und andere Gefahren drohten. Zudem waren die Bewohner ständig von Zwangsräumungen bedroht. Die Armee ging gegen Bewohner einiger solcher "unsicheren Gebiete" mit rechtswidrigen Zwangsräumungen vor. Personen, die leer stehende staatliche Gebäude besetzt hatten, mussten diese ebenfalls räumen. Die Zwangsräumungen erfolgten ohne vorherige Ankündigung und ohne Absprache mit den Betroffenen, die dadurch häufig obdachlos wurden.
Die Regierungsbezirke erarbeiteten gemeinsam mit der 2008 ins Leben gerufenen Entwicklungsgesellschaft für informelle Siedlungen Pläne zur Umsiedlung von Bewohnern "unsicherer Gebiete". Die Betroffenen wurden weder in die Planung einbezogen noch erhielten sie nähere Informationen. So wurde der Plan "Kairo 2050" weder veröffentlicht noch mit den Bewohnern der informellen Siedlungen abgesprochen, die vermutlich am stärksten davon betroffen wären. Im August versicherte das Wohnungsbauministerium allerdings, der Plan werde nicht zu Zwangsräumungen führen.
Nach der "Revolution vom 25. Januar" nahmen die Besetzungen von leer stehenden staatlichen Gebäuden sprunghaft zu. Im Auftrag der örtlichen Behörden vertrieben die Armee und die Bereitschaftspolizei die Hausbesetzer mit Gewalt und ohne Vorwarnung.
Grenzposten schossen weiterhin auf ausländische Migranten, Flüchtlinge und Asylsuchende, die auf der Sinai-Halbinsel die Grenze von Ägypten nach Israel überqueren wollten. Mindestens zehn Menschen kamen dabei ums Leben. Außerdem wurden zehn eritreische Staatsangehörige getötet, die vom Sudan aus nach Ägypten einreisen wollten. Viele weitere Personen erlitten Schusswunden oder andere zum Teil schwere Verletzungen. Sie wurden wegen "illegaler Einreise" angeklagt, vor Militärgerichte gestellt und zu Haftstrafen verurteilt. Mindestens 83 Flüchtlinge und Asylsuchende wurden in Länder abgeschoben, in denen ihnen schwere Menschenrechtsverletzungen drohten. Viele der Abgeschobenen waren eritreische Staatsangehörige. Mehr als 100 Flüchtlingen und Asylbewerbern drohte Ende des Jahres noch immer die Rückführung in ihr Heimatland.
Flüchtlinge, Asylsuchende und Migranten, die über die Sinai-Halbinsel nach Israel gelangen wollten, sollen von Menschenhändlern erpresst, vergewaltigt, gefoltert oder getötet worden sein. Auch wurden ihnen Berichten zufolge gegen ihren Willen Organe entnommen, um sie auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen.
Im Berichtsjahr wurden mindestens 123 Todesurteile verhängt. In mindestens 17 dieser Fälle erging das Todesurteil nach einem unfairen Gerichtsverfahren vor einem Militärgericht. Mindestens ein Mensch wurde hingerichtet.
Delegierte von Amnesty International statteten Ägypten
im Berichtsjahr mehrere Besuche ab: von Januar bis März, im Mai und Juni sowie von August bis Dezember.
© Amnesty International
Amnesty International Report 2012 - The State of the World's Human Rights (Periodical Report, English)